Aufbruch nach Marly, Moreau le Jeune, 1770er
In den 1770ern begann der Einfluß der neuen Ideen der Aufklärung und des Naturrechts auf die Mode spürbar zu werden. Eine gesunde Gesellschaft hat eine erstaunliche Fähigkeit, neue und potentiell gefährliche Ideen - wie z.B. die der Bürgerrechte - dadurch zu entschärfen, daß sie sich einige der harmloseren Ideen zu Eigen macht, Symbole der umstürzlerischen Gesinnung aufnimmt und zu Mode umwandelt. Genau das geschah nun: Merkmale bürgerlicher Kleidung wurden von den oberen Zehntausend aufgenommen.
In England, wo man immer schon etwas näher am Erdboden war und die ländliche Einfachheit schätzte, begann diese Entwicklung schon früher und verbreitete sich von dort aus nach Frankreich, dann durch ganz Europa. Hatte die Modelinie sich bisher nur ca. alle 10 Jahre geändert, war die Grundkonstruktion eines Gewandes (der Française) gar über 50 Jahre lang gleich geblieben, so tauchten nun alle paar Jahre mehr oder minder neue Kleiderformen auf.
Die Robe à l'anglaise, ursprünglich ein Abkömmling des französischen Manteaus, das in England als mantua überwintert hatte, kehrte nach Frankreich zurück. Daneben kam eine weitere Kleidform in Mode: Die Robe à la Polonaise, die wiederum nichts anderes als eine spezielle (aber in dieser Form tatsächlich neue) Abwandlung der Anglaise mit hochgerafftem Rock war. Sie ist das typische Kleidungsstück der 70er. Beide Kleidformen werden zunächst über Poschen getragen, dann aber über - met verlöff, met verlöff* - Arschkissen, die "Cul de Paris" (Pariser Steiß) genannt werden. Interessanterweise gab es diesen Cul schon einmal um 1700 herum und später noch einmal um 1883.
Im Verlauf der 1770er und 1780er starb die Contouche aus und machte der Anglaise und Polonaise Platz. Im bürgerlichen Umfeld waren beide relativ schlicht; ein Volant am Saum der Jupe mußte meistens reichen. Die hier abgebildete Polonaise ist mit ihrer mehrfach gerafften Jupe und dem umlaufenden Volant am Saum der Robe eines der auffälligeren Exemplare. Aus der Halbwelt sind knöchelkurze Röcke zur Polonsaise überliefert, die sich aber bei Bürgertum und Adel nicht durchsetzten.
Zur Polonaise, ja überhaupt zu den späten 1770ern, gehört eine hoch aufgetürmte Frisur. Ihr Aussehen und die zugehörigen französischen Bezeichnungen wechselten im Verlauf eines sich beschleunigenden Modewandels alle naslang. Der bekannteste Vertreter, der aber wahrscheinlich nur wenige Monate aktuell war, ist die "la belle Poule" genannte Frisur mit dem Schiff obendrauf.
Der Hofadel auf dem Festland bäumte sich in den 1770ern noch einmal in aller Dekadenz auf: Die Röcke am Hof waren noch breiter und voluminöser als selbst in den 40ern und mit Draperien und Kunstblumen überladen. Die Frisuren erhoben sich über Drahtgestellen in schwindelerregende Höhen. Außerhalb des höfischen Zeremoniells beugte sich aber auch der Hof der herrschenden, bürgerlichen Mode.
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*) Eine Ausdrucksweise, derer sich Liselotte von der Pfalz gern in ihren Briefen bediente, wenn sie unanständige Wörter benutzte - und das tat sie häufiger, als man es einer Dame des Hochadels heute zutrauen würde.
Die Musik ist die erste Arie aus der Kantate Il Nome (1761) von Johann Adolf Hasse. Sequenced by yours truly.