Die englischsprachige Literatur unterscheidet Open Robe auf der einen und Round Gown auf der anderen Seite. Das bezieht sich auf das Oberteil: Die Open Robe wird vorn offen über einem Stecker getragen und hat Robings - jene breiten Falten entlang der Vorderkante des Oberteils. Ein Round Gown hingegen reicht um den ganzen Oberkörper herum, d.h. es wird in der vorderen Mitte verschlossen, meist mit Haken und Ösen. Letztere Kleidform kam aber erst gegen 1770 auf.
Darüber, ob der Rücken frei flatternd ist oder auf Figur gefaltet, darüber sagt die Unterscheidung zunächst nichts. Ich finde es aber sinnvoll, eine solche Unterscheidung einzuführen, um Begriffsverwirrungen zu vermeiden. Das Kleid mir dem frei flatternden Rücken wird außerhalb des englischsprachigen Raums gewöhnlich Robe à la française (Französisches Kleid) genannt, das mit dem anliegenden Rücken Robe à l'Anglaise (Englisches Kleid). Letzterer Begriff bildete sich aber erst, als die Franzosen gegen 1770 die englische Mode übernahmen. Schon wieder 1770... Ja genau, das, was die Franzosen aus England übernahmen, war meistens ein Round Gown, also vorn geschlossen, und die Datierung "nach ca. 1770" schwingt dabei immer mit. Wie soll man dann aber die Kleider mit anliegendem Rücken nennen, die die Briten1 zwischen ca. 1720 und 1770 trugen, und die (wie die Robe à la française) vorn offen waren? Nun, ich nenne sie Open Robe².
Das hier vorgestellte Kleid stammt aus England und gehört stilistisch in die Zeit um 1760-70. Die Ärmel ohne Flügel oder Volants sprechen für eine späte Datierung; die Tatsache, daß es über einem Stecker getragen wurde, für eine frühe. Mit Ärmelflügeln und dem entsprechenden Unterbau ausgestattet, könnte es auch auf eine frühere Dekade getrimmt werden.
Warnung 1: Bevor Du Dich an ein solches Stück wagst, solltest Du allgemeines Schneidereiwissen im Fortgeschrittenenstadium und auch etwas historisches Schneidereiwissen haben.
Warnung 2: Ich rate davon ab, den hier angegebenen Schnitt auf Deine Maße hochzurechnen und zu erwarten, daß daraus etwas wird, das paßt. Er ist nämlich von einem Original abgenommen, und da es sich verbietet, ein solches auseinanderzunehmen, mußte ich manchmal ein wenig raten. Die folgende Anleitung wird daher davon ausgehen, daß Du den Schnitt nur als Vorlage benutzt, um Deinen eigenen Schnitt durch Drapieren zu entwickeln. Wenn Du einen gut sitzenden Futterschnitt von einem früheren Projekt hast, ist es relativ einfach, daraus den Zuschnitt für den Oberstoff zu entwickeln.
Warnung 3: Da ich nun schon einmal ein Original als Vorlage hatte, werde ich die damals benutzten Techniken erklären, die z.T. recht gewöhnungsbedürftig sind. Es steht natürlich jedem frei, modernere Techniken anzuwenden. Am fertigen Kleid kann nur ein Experte Unterschiede erkennen, und auch das nur bei genauem hinschauen.
Wenn Du über etwas stolperst, was unverständlich ist, dann sag mir bescheid. Ich habe mir zwar alle Mühe gegeben, aber ich kann nicht einmal erahnen, wie brauchbar meine Beschreibungen sind, wenn mir niemand Feedback gibt: Ich selber verstehe natürlich alles, aber Foul Ole Ron versteht wahrscheinlich auch, was er selber sagt. Bevor Du beim Lesen frustriert aufschreist und den Kram in die Ecke knallst, bedenke bitte: Nähanleitungen sind immer etwas kryptisch, wenn man die entsprechenden Stoffteile nicht gerade in der Hand hat. Manche Leute behelfen sich beim Lesen erfolgreich mit Papier- oder Stoffteilen in verkleinertem Maßstab, um die Arbeitsschritte nachzuvollziehen.
Das Korsett sollte man in jedem Fall schon fertig haben, bevor man mit der Robe beginnt: Das Gewand kann nur dann wirklich sitzen, wenn man es über dem Korsett auf die Figur modelliert. Der Rockunterbau³ sollte ebenfalls fertig sein, da seine Form und Größe die Rocklänge und -weite und somit den Stoffverbrauch bestimmt. A propos Robe: Das ganze Gewand besteht aus drei Teilen: dem Unterrock (Jupe), dem Oberkleid (Robe), und dem Stecker.
1) außerdem die Einwohner britischer Kolonien und seltsamerweise
auch die Niederländer, der Rest Kontinentaleuropas aber nicht
2) Es scheint auch einen französischen Begriff zu geben: Robe ajustée
(Kulturstiftung der Länder: Die Sammlung Kamer/Ruf.Berlin 2005,
S.32) Der Begriff ist aber in der Literatur sehr selten - wohl weil es den Franzosen
vor 1770 herzlich egal war, was die Briten trugen.
3) Für früh (1730-50) empfehle ich ein regelrechtes Panier oder einen
Springrock, für später (ab 1770) ein Pokissen. Ich habe es noch nicht
ausprobiert, aber ich stelle mir vor, daß durch die hintere Schneppe Poschen
unvorteilhaft aussehen könnten - wie zwei riesenrgroße, met verlöff,
Arschbacken. Es müßten schon recht kleine Poschen sein...