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Anatomie einer 1900er Taille

Hintergrund

Wie die 1890er Taille stammt auch diese aus London. Sie ist kurz und hat einen falschen, mit einem Latz gefüllten V-Ausschnitt mit Stehkragen, wie es kurz nach der Jahrhundertwende in Mode war. Stilistisch gibt es große Ähnlichkeiten mit dem Kleid, das ich auf ca. 1910 datiert habe. Sie ist aus Wollgabardine mit Maschinenspitze und Satin und in sehr gutem Zustand, wenn man davon absieht, daß der Satin an den exponierteren Stellen etwas abgewetzt ist.

Beschreibung

Vorderansicht

Die Taille reicht gerade bis zur - genau, zur Taille. Der Saum ist so gemacht, daß er wie ein Satingürtel aussieht. Der Oberstoff umrahmt einen V-Ausschnitt, der so aussehen soll, als trüge man darunter eine Weste und ein Untergewand mit stehkragen, beide aus Spitze. Tatsächlich sind diese Teile aber nur eingenäht und werden mit Druckknöpfen geschlossen. Die Ärmel sind eng und gerade und reichen bis zum Handgelenk.

Innenseite vorn
Bei schwarzem Stoff gehen leider gern die Details verloren... Rechts der Öffnung sieht man die Haken-/Ösenreihe, die die Futtertaille schließt. Direkt links davon ragt der mittlere Spitzenlatz hervor, der die Brust bedeckt und auf den der Kragen gesetzt ist (oberer Bildrand). In der unteren Bildhälfte sieht man einen Teil des den rechten Westen-Latzes - der mittlere Latz sitzt zwischen ihm und dem Futter. Gegenüber davon das linke Gegenstück. Ganz am unteren Rand der falsche Gürtel mit seinen drei Haken.

Wie die Taille angezogen würde, ist hier mittels Illustrationen erklärt. Als ich das mal einem Freund vorführte, meinte er: "Jetzt weiß ich, warum es immer heißt, Frauen bräuchten so lang zum Anziehen."

Innenseite hinten
Wie beim 1910er Kleid ist ein Taillenband mit Kreuzstichen an den hinteren Nähten befestigt. Im unteren Bereich sind alle Nähte und Abnäher mit Fischbein gesteift, das unter dem Futter verborgen ist. Ein Abnäher unbekannter Funktion läuft im Baumwollfutter vom Armausschnitt bis zur Spitze des Schulterblattes. er wurde offenbar nach Fertigstellung des Futters gemacht, vielleicht weil das Futter nicht richtig saß. Die Futtertaille mußte ja damals figurnah sitzen.

Auf dem Taillenband sitzen drei Haken mit dem Kopf nach unten. Die zugehörigen Ösen wären auf dem Rock zu finden gewesen - damit beim Strecken nicht alles auseinanderrutscht. Das Fischbein sitzt diesmal nicht in Stoffschläuchen auf dem Stoff, sondern in oder unter den Nähten des Futters, das für sich gearbeitet wurde - damals nicht selbstverständlich. Der Saum ist mit Schrägband aus dem Futterstoff versäubert.

Auf der Innenseite des linken Vorderteils sieht man den Druckknopf in der Ecke des Westen-Latzes. Das Gegenstück sitzt auf dem mittleren Latz. Die Haken und Ösen - immer abwechselnd - sind zwischen zwei Lagen Futter gesetzt.

Eine Detailaufnahme der Innenseite des rechten Vorderteils illustriert (hoffentlich) etwas klarer, wie der Mittellatz relativ zum Westen-Latz angebracht ist. Unterhalb des miederartigen Futterteils als innerster Lage schaut rechtwinklig der mittlere Latz hervor (Bildmitte). Er macht einen Knick nach oben, um dort auf die linke Seite des Halses zu treffen. Vor dort an läuft der Stehkragen, der auf die obere Kante des Mittellatzes aufgesetzt ist, allein weiter um den Hals herum nach hinten (oben links). Unter dem Mittellatz wiederum sitzt der Westen-Latz (unten links) mit seinen beiden Druckknöpfen, die ihr Gegenüber auf der linken Seite haben.

Jetzt sind alle Klarheiten beseitigt, oder? ;)

Die Ärmel sind mit falschen Aufschlägen aus Satin besetzt und haben am Saum schwarze Maschinenspitze. Auf der linken Seite des Bildes sieht man einen Schlitz, der mit zwei Druckknöpfen geschlossen wird. Er ist innen sehr solgfältig gearbeitet.

Während Oberstoff und Futter der Taille getrennt verarbeitet wurden, wurden beim Ärmel beide Lagen in einem Rutsch zusammengenäht, wie es damals üblich war. Die kürzere Innenaht ist eher schlampig versäubert (untere rechte Ecke), die Außennaht hingegen sehr zeitaufwendig, indem die Kanten des Ober- und Futterstoffes gegeneinander geschlagen und zusammengenäht wurden.

Maße