Im späten 19. Jahrhundert bestand ein Kleid (damals auch als Anzug oder Toilette bezeichnet) aus einem Oberteil (der Taille) und einem Rock. Vergleichbare heutige Begriffe wie Bluse oder Jacke scheitern: Anders als eine Bluse ist eine Taille gefüttert, enganleigend und versteift. Anders als bei einer Jacke wird darunter nur Unterwäsche getragen, so daß man sie nicht je nach Temperatur an- oder auszog. Am ehesten kann man sie wohl mit dem Oberteil eines heutigen zweiteiligen Kleides vergleichen.
Von den 1870ern bis um 1910 folgten Taillen dem gleichen Grundschnitt und wurden mit den gleichen Techniken verarbeitet. Sie unterschieden sich vor allem durch die Verzierungen, die Länge, Ärmelform, Verschlußvarianten, Kragen und die Anbringung des Oberstoffs. Die Anleitung hier behandelt die Herstellung einer einfachen Grund-Taille der Zeit um 1883-86, also die Zeit der Zweiten Tournüre.
Als Grundschnitt eignen sich die drei Taillenschnitte der 1900er-Schnittseite (Ärmel nicht vergessen) oder, falls Du das Vergrößern scheust, die Schnitte der Firma Truly Victorian*. Bei denen muß man nur bei den Ärmeln aufpassen, aber dazu kommen wir dann im Kapitel Anprobe.
Bevor Du die Taille nähst, müssen das zugehörige Korsett und die Tournüre schon fertig sein. Das passende Hemd und ein Unterrock sind ebenfalls hilfreich, da sie die Form der Brust und des Rockes beeinflussen.
Die folgende Anleitung habe ich mit Hilfe mehrerer erhaltener Originalteile sowie zweier zeitgenössischer Bücher** erstellt und anhand eines Nähprojektes überprüft.
*) In D erhältlich z.B. bei
www.kostuemkram.de und www.neheleniapatterns.com
**) Steimann, Antonie. Ich kann schneidern - Illustriertes Hausbuch der praktischen
Schneiderei. Ullstein & Co.: Berlin/Wien, 1908
Lechner, Hedwig, und Gunda Beeg. Die Anfertigung der Damen-Garderobe.
Lehrbücher der Modenwelt, Erster Band. Lipperheide: Berlin, 1888 (Gibt
es unter www.laetacara.de.vu
als CD zu kaufen. Bitte unterstützt die gute Frau, die solche Bücher
hobbymäßig scannt und nachbearbeitet, indem Ihr ihre CDs nicht raubkopiert!
Wenn sie frustriert aufgäbe, kämen wir an solche Leckerchen gar nicht
mehr heran.)