Anatomie eines Korsetts


Dieses Korsett wurde mir leihweise zur Erforschung zur Verfügung gestellt von jemandem, der es im Keller der Großmutter gefunden hat. Ich danke hiermit jener Person, die anonym bleiben möchte, ebenso dem Modell, das für dieses Korsett eine Winzigkeit zu schlank war.

Beschreibung

Der cremefarbene Stoff scheint einer jener in "Ich kann schneidern" erwähnten Gitterstoffe zu sein: Er erscheint aus etwa 0,5 mm und 0,8 mm dicken Fäden eher geklöppelt als gewebt. Dadurch ist der Stoff kräftig, in der Diagonale auch leicht dehnbar, aber gleichzeitig luftdurchlässig. Da es sich wahrscheinlich um Leinen handelt, dürfte dies ein Sommerkorsett gewesen sein.

Die Fischbeinstäbe sind in beigen (ursprünglich wohl cremefarbenen) Tunneln aus dichtem, feinem Leinenfischgrat untergebracht, die von außen mit der Maschine aufgenäht sind. Aus dem gleichen Stoff sind im Bereich der Körbchen breite Querstreifen aufgenäht, die zwischen 15 je 2 mm breiten Absteppungen mit Schureinlage versteift sind. Alle Stabtunnel verlaufen entlang der Nähte, sind zwischen 15 und 30 mm breit und enthalten je zwei Stäbe. Sie scheinen die Stäbe vollständig zu umschließen, denn von innen sieht man durch die großen Maschen des Stoffes nur etwas helles - Fischbein aber ist dunkelbraun. Insgesamt sind in jeder Korsetthälfte 15 Stäbe von 5 bis 10 mm Breite. Nur die zwei breitesten (entlang der Seitennaht) sind oben durch ein paar einfache Stiche mit rosafarbener Seide verschlossen; unten hingegen werden alle Stäbe durch rosa Stickerei am Herausrutschen gehindert. Dabei ist diese Stickerei bei den ersten vier und dem vorletzten Stabpaar (von vorn aus gezählt) als dekorative Garbe in Platt- und Federstich ausgeführt, ansonsten als einfaches "V".

Der vordere Verschluß, dasPlanchet, ist 29 cm lang, 2 x 13 mm breit und trägt 5 Ösen bzw. Nägel. Es ist nicht besonders steif und im Bauchbereich stark nach vorn gebogen. Wie die Stäbe liegt es unter einem Fischgratstreifen. Von der Rückseite ist zusätzlich ein Streifen Baumwollköper gegengesetzt. Die Kanten wurden überwendlich zugenäht. Die Rückenschnürung ist ebenfalls mit Fischrat von außen und Bauwollköper von innern belegt. Sie liegt zwischen zwei Stäben und besteht aus 14 Matallösen je Seite. Die fünfte bis achte Öse (von unten) sind dichter beisammen als die übrigen: Im Abstand von 12 statt 24 mm. Dort ist das kreuzweise geführte Schnürband in großen Schlaufen herausgezogen und verknotet. Das untere Ende des Schnürbandes ist mit zwei einzelnen Knoten verschlossen und durch Metallhülsen gegen ausfransen gesichert. Das Schnürband ist ein cremefarbener, litzengewebter Schlauch von 5 mm Breite.

An der Oberkante ist eine cremefarbene, 5 cm breite Spitze mit zwei rosa Durchzugsbändchen aufgesetzt. An den Nähten zwischen dem dritten und vierten sowie dem siebten und achten Schnitteil wurden die Durchzugsbändchen zusammengeknotet, so daß dort die Spitze zusammengerafft ist. Inn en ist ein 27 mm breites Taillenband aus weißem, leinenbindigem Leinenband aufgesetzt. Stellenweise wurde es mitgefaßt, als die Stabtunnel genäht wurden. Auf der einen Seite des Taillenbandes ist in schwarzer Kursivschrift "Fischbein" aufgedruckt, auf der anderen "Königin Luise" in Kurrent, darunter "Gesetzl. gesch." in kursiver serifenloser Schrift und daneben "P.N. MARQUE" - dann ein verblichenes rundes Siegel - und "DEPOSEE P.N." Damit ist klar, daß das Korsett in Deutschland hergestellt wurde.

Ober- und Unterkante sind mit einem 12 mm breiten Köperband versäubert. Alle Nähte, mit Ausnahme der überwendlichen an den senkrechten Kanten, sind mit Maschine gemacht.

Erst beim "angezogenen" Korsett wird deutlich, daß vorn, in der Bauchgegend, sehr viel Platz ist, während die Rückenmitte unnatürlich gerade verläuft (siehe das dritte der "angezogenen" Bilder). Vorn wurde auf beiden Seiten nachträglich versucht, etwas Weite durch Abnäher wegzunehmen. Auf der linken Seite ist diese Naht noch intakt; auf der rechten hat sie sich so weit aufgelöst, daß man sie kaum noch bemerkt. Im ersten der "angezogenen" Fotos oben wird diese Naht auf der rechten Bildseite als senkrechte Falte nahe der Unterkante sichtbar; sie zieht das äußere Stabpaar in eine seltsame Kurve. Möglicherweise fand auch die ursprüngliche Besitzerin, daß das Korsett eine unmögliche Form habe, und packte es deshalb weg, so daß es in solch gutem Zustand erhalten blieb.

Die deutlich ausgeformten Körbchen und gebogene Front sprechen für eine Datierung um 1860-1895. Für die Zeit vor 1870 ist es jedoch etwas zu lang, während man für die Zeit nach 1890 eher einen Zuschnitt mit Hüftkeilen erwarten würde und für die 1880er ein Löffelplanchet sowie evtl. auch eine größere Gesamtlänge. Allerdings wurden auch in den 1880ern nicht für alle Korsetts Löffelplanchets verwendet. Um 1878-82 erwartet man aufgrund der Küraß-Mode länger über die Hüfte hinabreichende Korsetts. Gitterstoff und der Hinweis auf Fischbein (statt Stahl) weisen eher auf eine späte Datierung hin, als die Ausrottung der Wale schon so weit fortgeschritten war, daß echtes Fischbein etwas Besonderes war. Alles in allem neige ich zu einer Datierung um 1885-1895, evtl. auch 1870-1878.

Schnitt

Druckt man die vier Grafiken in voller Größe (d.h. praktisch ohne Rand!) auf A4-Papier aus und klebt die Teile an den dreieckigen Paßmarken zusammen, erhält man den originalgroßen Schnitt. An Teil 1 mit der Vorderkante schließt sicht Teil 2 an, daran Teil 3 usw., bis zu Teil 7 mit der Rückenschnürung. Wo oben und unten ist, ist an der Ausrichtung der Schrift zu erkennen. Die Stabtunnel sind schraffiert.

Schnitt 1 --- Schnitt 2 --- Schnitt 3 --- Schnitt 4

Maße

  halbes Schnittmaß geschätztes Körpermaß
Taille 31,5 72
Oberweite 43 94
Hüfte 47,5

98

Rückenbreite 15 32
Länge vorn 30  
Länge hinten 31