Ich sage auf diesen Seiten oft genug: Mach einen Bogen um Plastik! Nimm nur Naturfasern! Meide die Nähmaschine! Aber das ist z.T. gefärbt von der Tatsache, daß ich mich zumeist im 18. Jahrhundert bewege. Als ich kürzlich in Sachen 1915 unterwegs war, fiel mir plötzlich auf, wievieles von dem, was für das 18. Jh. unbenkbar wäre, ich endlich verwenden darf. Also ab wann kann man was verwenden?
Nähmaschine:
Erster Vorläufer 1755 (Weisenthal), 1840 Prototypen für Doppelsteppstich
mit zwei Fäden und für Kettstich, 1851/52 halbwegs moderne Maschinen.
Gebrauch ab ca. 1880 verbreitet, im Privathaushalt vielleicht ab Mitte 1890er.
Kunstseide:
Erstes Verfahren (Chardonnet) 1885, später Kupferoxyd-Ammoniak-Verfahren
und Viskoseverfahren. Brennproben an mehreren kaputten Schirmbespannungen, die
anhand der Schirmform in die Zeit um 1900-1915 fallen, wiesen auf Kunstseide
hin.
Nicht zu verwechseln mit Kunststoff-Fasern: Kunstseide besteht aus chemisch
veränderter Zellulose, ist also ursprünglich pflanzlich.
Druckknöpfe:
Ab 1880. Um 1908 nachweislich (Schneidereibuch, erhaltene Stücke) sehr
beliebt.
Reißverschluß:
Erstes Patent 1914 (Sundback), gebräuchlich ab 1930er.
Häkeln:
Trotz aller Bemühungen konnte ich keinen Hinweis auf Häkeln vor dem
späten 19. Jh. finden. Ich müßte nochmal genau die Zeitschriften
des 19.Jh. durchgehen, ab wann genau es auftaucht, aber leider enthalten meine
frühen Quellen keine Handarbeitsvorlagen. Sicher ist, daß der Begriff
"häkeln", egal in welcher Schreibvariante, in Lexika von 1715,
1732 und 1811 nicht vorkommt. Das liegt nicht daran, daß Handarbeiten
den Lexika zu uninteressant waren, denn es gibt durchaus Einträge für
andere Techniken. Angebliche frühere Nachweise beruhen auf Verwechslung
mit ähnlichen Techniken oder auf dem Vorhandensein vermeintlicher Häkelnadeln,
die aber sehr dünn sind und für Tambourstickerei (ab spätes 18.
Jh.) verwendet wurden.
Stricken:
Vorformen desselben sollen im alten Ägypten aufgetaucht sein; es könnte
sich aber auch um eine andere, ähnliche Techik handeln. Sicher nachgewiesen,
nämlich durch erhaltene Strickjacken z.B. im Musée de la Mode et
du Textile (Paris), ist es ab dem 16. Jh. Im 17. und 18. Jh. scheint es außer
für Strümpfe keine Rolle gespielt zu haben: Weder in schriftlichen
Quellen noch an erhaltenen Objekten ist es mir begegnet.
Occhi/Frivolitäten:
Es gibt in Gemälden des 18. Jh. Nachweise für Schiffchen, wie man
sie für Occhi gebraucht, aber größer. Erhaltene Objekte gibt
es nicht; Schriftquellen kennen weder "Occhi" noch "Frivolitäten"
noch "Schiffchenarbeit". Das Frauenzimmer-Lexicon (1715) und Zedler
(1732) erwähnen stattdessen "Knötgen knüpffen", das
ebenfalls mit Schiffchen ausgeführt wird und wahrscheinlich der Vorläufer
von Occhi ist, nur daß dabei nicht die typischen "Augen" geformt
werden. Als Kleiderverzierung nicht vor dem Ende des 19. Jh.
Pailletten:
Im 17. Jh. in Stickereien z.B. auf Handschuhen nachgewiesen, im 18. Jh. auch
auf Anzügen. Vorsicht: Damals wurden Pailletten hergestellt, indem man
Drahtringe plattdrückte, d.h. authentische Pailletten haben einen Schlitz
und sind versilbert oder vergoldet, aber nicht bunt.
Baumwolle:
Angeblich schon im alten Ägypten bekannt, im Mittelalter begehrte und teure
Ware. Lange Zeit war man nicht in der Lage, aus den relativ kurzen Fasern (10-20
cm, bei Leinen 30-40 cm) Fäden herzustellen, die genug Zug ertragen, um
als Kettfäden zu dienen. Deshalb gab es zunächst nur Mischgewebe aus
leinenen Kett- und baumwollenen Schußfäden (Barchent). Spätestens
im 17. Jh. wurden rein baumwollene Stoffe gewebt. Erst ganz am Ende des 18.
Jh. wurde ein Verfahren gefunden, das ermöglichte, Baumwolle zu Nähgarn
zu verarbeiten. Siehe auch Stoffe
für das 18. Jh. Im 19. Jh. änderte der Begriff "Barchent"
seine Bedeutung und bezeichnete nunmehr einen auf der linken Seite angerauhten
Baumwollstoff, der v.a. für winterliche Nachtwäsche verwendet wurde.
Viele der heute ganz normalen Lebens- und Genußmittel stammen aus Amerika, sind also für Mittelalterdarstellungen völlig ungeeignet. Viele davon waren auch später noch ziemlich teuer.
Kartoffeln:
Aztekisch "patatl", daher die Namen Patate, potatoe, patata. Im Frauenzimmer-Lexicon
von 1715 erwähnt unter "Erdäpfel" als Gericht für das
einfache Volk, was auf weite Verbreitung und geringen Preis hinweist. Erwähnt
sind Salz-, Pell- und gebackene Kartoffeln.
Kakao, Schokolade:
Aztekisch "cacauatl". Im Frauenzimmer-Lexikon unter "Choccolate".
"Mit Wasser, Milch oder Wein gekochet" als Getränk oder zu Soßen.
Schokolade als festes Knabberzeugs war im 18.Jh. noch nicht üblich. Historische
Trinkschokolade kann man aus Wasser und dunklem, ungesüßtem Kakaopulver
oder Zartbitterschokolade bereiten. Im 18. Jh. in Europa noch ein teures Genußmittel,
in Amerika hingegen spottbillig, so daß Kakaopulver dort angeblich sogar
verwendet wurde, um höherwertige Lebensmittel zu strecken.
Mais:
Im 16. Jh. noch eine botanische Kuriosität; offenbar zuerst in der Türkei
und später auf dem Balkan gepflanzt.
Tomaten:
Aztekisch "tomatl", auch bekannt als Goldapfel (italienisch: pomo
d'oro) oder Liebesapfel. Zunächst für giftig gehalten (was grüne
Tomaten auch sind) und daher nicht als Nutzpflanze kultiviert. Erst Anfang des
20. Jh. gewann sie Bedeutung als Nahrungsmittel. Da die Tomate v.a. mit der
italienischen Küche in Verbindung gebracht wird, spricht es Bände,
daß das Frauenzimmer-Lexicon einen "italiänischen Salat"
erwähnt, in dem sie nicht vorkommen. Siehe auch diesen
Artikel.
Salat:
wird oft für eine relativ moderne Erfindung gehalten, aber das Frauenzimmer-Lexicon
erwähnt mehrere Rezepte, zählt diverse gesundheitliche Tugenden auf
und empfieht ihn v.a. als Sommergericht. Die Rezepte sind: Salat von Endivien,
von Artischocken, von Kresse, von Seleri, von Aepffeln, Rettig und Zwiebeln,
von frischen Gurcken, von eingelegten Gurcken, von Kümmerlingen, von Bohnen,
von Gartenkresse, von Häupteln, von Hoppen-Keimgen, von Lactuc, von Hasen-Ohren,
von Krauthäuptern (=Kohl) kalt und warm, von Portulac, von Prockoli, von
rothen Rüben, von Wegwarten (Chicori), von Rebüntzgen, von Rübenkraut,
von Rindsgaumen, von weißen Rüben, von Spargel, und italiänisch.
Lactuc ist nichts anderes als der gemeine Kopfsalat (engl: lettuce); aber was
ist dann mit "Häupteln" gemeint?
Tabak:
In Spanien schon im frühen 16. Jh, ab Mitte 16. Jh. in Frankreich (Schnupftabak),
zum rauchen ab 1570 bei holländischen Matrosen, ab 1586 in England (Raleigh).
Ab dem 30jährigen Krieg in ganz Europa. Ab spätes 17. Jh. angeblich
(Meyers Lexikon) schon Vorform der Zigarette in Spanien. Ein Kupferstich um
1700 zeigt Frauen, die langstielige Pfeifen rauchen. Erste preußische
Tabakfabrik 1720. Im 18. Jh. wurde Tabak üblicherweise in Tonpfeifen geraucht;
es gibt Tabaksdosen, Tabatieren und Tabakskollegien als Hinweise auf große
Beliebtheit. Ab 1862 Zigarren und Zigaretten (siehe Bizets "Carmen":
Die Titelfigur arbeitet in einer Zigarettenfabrik).
Kaffee:
Im 13.-15. Jh. aus Äthiopien nach Südarabien importiert. In Europa
erstmals im letzten Drittel des 16. Jh. erwähnt. Nach der Türkenbelagerung
von Wien, in der zweiten Hälfte des 17. Jh., in allen großen Städten
Europas Eröffnung von Kaffehäusern. Bis zum 19. Jh. nur Wohlhabenden
zugänglich.
Kunststoffe:
Chemisch veränderte Naturstoffe: Vulkanisierter Kautschuk ab 1839 (Goodyear),
Zelluloid (1869), Kunsthorn (1897), Zellglas (1910).
Vollsynthetische Kunststoffe: Bakelit (1909, Baekeland), Harnstoff-Formaldehyd-Kondensate
(1920), Melamin (1935), Vinyl (1930-35). Nylon/Perlon/Polyamid laut Wikipedia
1937, für Strümpfe ab 1938.
Quelle:
Zumeist Meyer's Enzyklopädisches Lexikon in der Ausgabe von 1974,
ansonsten im Text benannt.
Monday, 10-Sep-2018 22:51:40 CEST