China im späten 19. Jh.

Leider ist mir das China des späten 19. Jh. ebenso fremd wie es für Stoddard war. Ich habe zwar ein bißchen über chinesische Kultur lernen müssen, da sie so großen Einfluß auf Japan hatte, aber dieser Einfluß hörte im frühen 17. Jh. auf, und danach ist China für mich ein Buch mit sieben Siegeln.

Im mittleren 17. Jh. nämlich wurde China von den Mandschuren erobert, einem halbnomadischen Reitervolk aus dem Nordwesten des heutigen China. Damit begann die mandschurische Chin-Dynastie (auch Qing oder Ch'in), die erst 1912 mit dem letzen Kaiser Pu Yi endete.

Die Mandschu wurden damit zur führenden Schicht, wurden aber andererseits von den Han*-Chinesen, die sich kulturell überlegen fühlten, nicht ganz akzeptiert. Es entstand eine kulturelle und gesellschaftliche Zweiteilung, die durch Gesetze wie das Verbot der Heirat zwischen Han-Chinesen und Mandschuren gefestigt wurde.

Als Stoddard (wahrscheinlich) 1896 nach China reiste, hatte die Chin-Dynastie bereits den Druck westlicher Kolonialmächte zu spüren bekommen, die an chinesischen Besitzungen sehr interessiert waren - besonders des Opium- und Seidenhandels wegen. Viele Häfen wurden besetzt und "zwangsgepachtet", so z.B. Hong Kong und Port Arthur.

Die Mehrheit der Bevölkerung von damals 400 Millionen betrieb Landwirtschaft oder arbeitete als Kulis und lebte Stoddard zufolge in schrecklichen Zuständen. Das ganze Land, das einstmals in Technologie, Gelehrsamkeit und Infrastruktur einsame Weltspitze gewesen war**, war zu einem Dritte-Welt-Land abgestiegen.

Die Kleidung stand stark unter mandschurischem Einfluß. Das klassische chinesische Gewand sieht eher einem japanischen Kimono ähnlich, während das, was wir heute für typisch chinesisch halten, mandschurischen Ursprungs ist: Stehkragen, seitlicher Knopfschluß, geschorene Köpfe mit langen Zöpfen bei den Männern.

Eine der Traditionen, die die Han-Chinesen auch zu Stoddards Zeiten noch aufrechterhielten, waren die "Lotosfüße" (auch "Lilienfüße"), jene berüchtigten, verkrüppelten Füße der Frauen. Der Lotosfuß, so heißt es, ist nach der Goldlotos-Münze benannt, die knapp 8 cm lang und oval war. Der ideale Frauenfuß sollte darauf Platz finden. Also wurden schon den kleinen Mädchen enge Bandagen angelegt, die die Zehen unter die Sohle bogen und den Fuß am weiteren Wachsen hinderten, so daß er am Ende sehr kurz, aber hoch war.

Eine Mandschurin konnte man jederzeit von einer Han-Chinesin dadurch unterscheiden, daß sie "große" (also normale) Füße hatte. Die Mandschurinnen hatten nie etwas für Bandagieren übrig.

 
Kleidung der Chin-Zeit >>> Reise nach Japan

*) Han: China war schon lange ein Vielvölkerstaat; das die meiste Zeit über beherrschende Volk waren die Han. Noch heute heißt geschriebenes Chinesisch Han-wen, die Schriftzeichen Han-zi.
**) Weltspitze: China kannte Papier, Buchdruck, Schießpulver, Steinkohle und Papiergeld schon lange vor Europa.