Nähen wie zur Jahrhundertwende: Reformkleidung

 

Seit dem Jahre 1850 sind amerikanische Frauen auf diesem Gebiete mit mehr oder minder Erfolg tätig gewesen, von dort zog sich die Bewegung nach England, bis sie langsam auch zu uns nach Deutschland kam. Auf dem Berliner Frauenkongreß 1896 wurde die Frauenkleidung in Deutschland zum ersten Male Gegenstand öffentlicher Diskussion [...]

Ziel der Reformbewegung war die Befreiung von einengender, hinderlicher und ungesunder Kleidung, und zwar im Verein mit und als Ausdruck von wirtschaftlicher und sozialer Befreiung der Frauen. Es begann mit dem Bloomerkostüm, bestehend aus einem knielangen Kleid mit Pluderhose darunter. Um die Jahrhundertwende nahmen sich Künstler des Themas an, die der Meinung waren, die übliche Kleidung verunstalte den Körper.

Insbesondere richtete sich der Kampf gegen das Korsett als die Wurzel allen Uebels. Es wurde eine Kleidung verlangt, die allen Lebensorganen ungehinderte Bewegung gestattet, die Schwere der Kleider vermindert, die Hauptlast auf die Schultern verlegt und eine gleichmäßige Temperatur des ganzen Körpers erzielt. [...] Die Reformer und Künstler, die für eine neue Frauentracht eintreten, haben in den meisten Beziehungen vollkommen recht; denn wenn eine Venus von Milo, die uns doch allen als vollkommenes Frauenideal vorschwebt, einen Taillenumfang von 80 cm hat, ist es wohl kaum auf natürlichem Wege möglich, den Umfang auf 56-60 cm zu reduzieren*.

Die sackähnlichen Gewandungen, die man zu Anfang der Bewegung zu sehen bekam, verschwinden mehr und mehr, aber noch häufig wird der Fehler gemacht, daß die Gürtung zu hoch sitzt, die Brust dann flach drückt, statt ihre Formen zu heben, oder daß die Hüftlinien zu wenig geschweift ausfallen, so daß die Schönheiten der weiblichen Linien nicht nur nicht gehoben, sondern geradezu verwischt werden.

Reformunterkleidung

Schnitte siehe hier.

Mehr als ein Unterrock wird kaum heute noch außer dem Reformbeinkleid getragen.

Wollen wir ehrlich sein, so müsen wir eingestehen, daß das Hemd den modernen Anforderungen nicht mehr entspricht, daß es infolge seiner überflüssigen Weite und Länge zu Faltenbildungen gezwungen wird, die es besonders im Verein mit dem Beinkleid oft recht lästig machen. Darum hat man diese beiden Stücke zu einem vereint und so die Hemdhose geschaffen, die, wenn sie auch noch befremdet, doch viele Annehmlichkeiten für sich hat und dereinst wohl als Siegerin hervorgehen dürfte. Wie aus Abb. 571 ersichtlich, ist sie im Taillenschluß leicht geschweift, so daß nicht die unbequemen Falten entstehen können. Vorn befindet sich der Knopfschluß, rückwärts eine aufzuknöpfende Klappe, wie sie Reformbeinkleider haben. [...] Will man über der Hemdhose ein Reformbeinkleid tragen, was wohl während der kalten Jahreszeit stets der Fall sein dürfte, so hat man auch den unteren Rand einfacher zu gestalten.

Der mit Stäben gesteifte Korsettpanzer wird bereits auch von vielen Damen gemieden, die im übrigen der losen Reformgewandung keinen Geschmack abgewinnen können. An seine Stelle ist ein mit Schur gefestigtes Leibchen aus porösem Stoff getreten, das nicht "auf Taille" gearbeitet ist, sondern die Figur zwanglos umschließt und ihr doch noch immer den nötigen Halt gewährt. [...]

Als Material diene ein fester, aber poröser Waschstoff. Besonderer Aufputz läßt sich hier nicht gut anbringen; ein haltbares Spitzchen als Umrahmung genügt dafür. Hauptsache ist die solide und zweckentsprechende Ausführung, die an beiden Stücken [Reformkorsett, BH] trotz der verschiedenartigen Form ziemlich die gleiche ist. Nur hat man das Korsett durch Schnureinlagen zu steifen, die mehrfach nebeneinander mittels schräger, fester Stoffstreifen über den Nähten aufgesteppt werden. Die Nähte sind deshalb nach außen gekehrt zu nähen und werden durch die Besatzstreifen gedeckt. Der Büstenhalter ist nicht zu steifen; hier übersteppt man die nach innen gekehrten Nähte entweder mit Schrägstreifen aus Satin oder anderem glattem Stoff, oder man führt eine ziemlich breite Kappnaht aus. Schmale Nähte werden leicht fest und drücken; deshalb sind sie zu vermeiden. Die Ansätze der vorderen eingereihten Teile sind innenseitig ebenfalls mit Schrägstreifen, die die Nähte flach legen, zu übersteppen. Auch die Kanten sind von schrägen Stoffstreifen oder Bändchen zu umfassen.

Große Sorgfalt ist dem Knopfverschluß zuzuwenden, der recht haltbar sein muß. Am linken Rand hat man einen Untertritt aus doppeltliegendem, sehr festem Stoff anzusetzen, auf dem die Knöpfe nach der neuen Methode mittels eines schmalen Schrägstreifens festgesteppt werden. Sie sind zu dem Zweck auf eine starke Schnur zu ziehen, die der Steppstreifen hält. Man hat nicht Stoff- sondern Perlmutter- oder Glasknöpfe zu verwenden, die man nicht so bald zu erneuern braucht, wie die sonst üblichen Waschknöpfe.

Korsett wie BH hatten Knöpfe in der Taillengegend, an denen der Rock befestigt wurde, da ja das Gewicht von den Schultern getragen werden sollte.

Kein Stück der Reformkleidung hat sich so viele Freundinnen erworben wie das geschlossene Beinkleid, das so vorzüglich gegen mancherlei böse Erkältungen schützt und besonders von Frauen, die sich viel im Freien bewegen, im Winter getragen werden sollte. Für den Sommer jedoch ist es nicht empfehlenswert, wenn es nicht aus sehr leichtem und hellem Stoff besteht. Gewöhnlich fertigt man dieses Kleidungsstück aus dunklerem Wollenstoff an.

Dazu wurden sog. Einknöpfer getragen, die die gleiche Form hatten, aber aus hellem Waschstoff waren und am oberen Rand Knopflöcher haben, die zu Knöpfen an der Innenseite des Reformbeinkleides passen.

Reformtoiletten

Grundschnitt: Futter für Reformkleid

Das Straßenkleid ist das am schwierigsten herzustellende aller Reformkleider; denn es soll einfach, gediegen und praktisch sein, soll dabei nicht auffallend wirken, um nicht aus dem Rahmen des alltäglichen Straßenbildes herauszufallen. Ein Rock mit Bluse und Jacke dienen wohl am besten diesen Ansprüchen. [...] Soll die Bluse über dem Rock getragen werden, so muß dieser entweder ein Leibchen haben, das den Rock auf den Schultern tragen hilft oder man fertigt eine die Figur lose umschließende Taille aus festem Futter, an die der Rock mittels flachen Knöpfen und Knopflöchern festgeknöpft wird.

Das Besuchskleid kann eine Jacke als Ergänzung haben, ist aber auch selbstständig möglich, so daß es ohne Ueberkleidung mit einem beliebigen Paletot oder Mantel getragen werden kann. Sehr zu empfehlen sind hierfür weiche, schmiegsame, nicht allzu leichte Wollstoffe, für die sich die Empirefasson mit einer Gürtung unterhalb des Brustkorbes am besten eignet [...]

Das Empfangskleid im eigenen Hause, ob es sich nun um kleinere oder größere Gesellschaften handelt, gestattet der Phantasie und der Individualität der Trägerin volle Freiheit [...], da in den engen Grenzen des eignen Heims alles gestattet ist, was auf der Straße, in der Oeffentlichkeit, unangenehm auffallend wirken könnte. Auch hier kann die Empireform nur immer wieder am meisten anempfohlen werden.

Neben der Empire- war auch die Prinzeßform für Reformkleidung beliebt. Röcke der Straßenkleider waren meist fußfrei, für elegantere Zwecke aber eher bodenlang und mitunter mit Schleppe. Nur die wirklich mutigen gingen konsequent mit kurzen Röcken.

 

*) Das ist ein bißchen geschönt, denn die Venus von Milo ist in natura um die zwei Meter groß.