Allgemeiner Modenbericht.

 

Wenn man im voraus die Mode für ein ganzes Jahr feststellen soll, wird es sich immer nur um die Grundzuge derselben handeln können, da ausgesprochene Neuheiten erst im Laufe der Saison zur Geltung kommen. Allerdings müssen sich diese wieder an die massgebenden Grundzüge der geltenden Mode anlehnen, sie können sich nur auf einzelne Liniaturen und Schattirungen beziehen, die das Gesammtbild der Mode nicht verändern, sondern nur die Eigenheiten des Einzelnen zum Ausdruck bringen, die seiner Arbeit ein specielles Gepräge verleihen. Da durch entstehen dann eine Reihe angenehmer Abwechselungen, wie sie im Laufe des Jahres von den Modenzeitungen aufgenommen und dem Fachmanne in Bild, Schnitt und Beschreibung unterbreitet werden. Aber grade deshalb ist es eine angenehme Sache, schon von Anfang an eine gewisse Direktive für das ganze Jahr zu haben. Ein denkender, strebsamer, für sein Fach begeisterter Geschäftsmann wird gleich von vorherein seine eigene und die Geschmacksrichtung seiner Kundschaft mit der neuen Mode in Einklang bringen. Denn ganz direkt sich in allen Fällen an die gegebenen Vorschriften der Mode zu halten, wird wohl niemand wagen dürfen, es würde auch zur Verschönerung des gesellschaftlichen Gemäldes nicht auf's Günstigste beitragen. Ob gleich die Mode Allgemeingut geworden ist und längst keine Abgrenzung der vornehmen und niederen Stände mehr kennt, so regeln sich doch die Unterschiede nach Zweck und Bedürfnissfrage, nach Individualität und Geschmacksrichtung der Kundschaft.

Dem Zwecke nach unterscheiden wir Geschäfts-, Promenaden- und Gesellschaftskleidung. Daneben machen sich noch verschiedene Bedürfnisse geltend in Haus-, Sports-, Wetter- und Reisekleidung, die alle einem steten Wechsel der Mode unterworfen sind.

Wenn wir mit der Geschäftskleidung beginnen, so gehört dazu in erster Linie das Sacco, und zwar das einreihige mit drei- bis vierknöpfigem Schluss. Das dreiknöpfige Sacco wird gleich unterhalb des letzten Knopflochs in gefälliger Rundung abgestochen, bei dem vierknöpfigen ist die Fronte ziemlich gerade, mit nur wenig Abrundung der unteren Kante. Die Facon des vierknöpfigen Saccos ist etwas kürzer wie diejenige des dreiknöpfigen, beide sind mehr schlank, mit ziemilch rechtwinkligem Einschnitt zwischen Kragen und Klappe. Breite Kragen und Klappen kennt die gegenwärtige Mode bei Geschäftsanzügen nicht. Die üblichen äusseren Taschen sind Seitentaschen, Billettasche und Brusttasche; letztere meist mit Leiste, die übrigen mit Schiebepatten. Brusttaschen mit Schiebepatten, sowie aufgesteppte Taschen gehören zu den Attributen der Sportssaccos und sind bei diesen sozusagen in Permanenz. Die Gesammtansicht des modernen Saccos entspricht ganz mittelmässigen Verhältnissen, das heisst, es ist gleich weit entfernt von der prall anliegenden wie von der weiten Form. Die mittlere Rückennaht, die geschweiften Seitennähte beeinträchtigen keineswegs den legeren Fall, bewirken aber eine gefällige Taillenschweifung, die dem körperlichen Ebenmass zum unbedingten Vorteil gereicht. Mit diesem Verhältniss harmoniren die ziemlich hochgeführten Seiten- und Achselnähte, welche als Hauptmerkmale der gegen wärtigen Moderichtung anzusehen sind. Die Aermel sind halbweit, mit 5 - 9 cm hohen markirten Aufschlägen, die an der äußeren Naht mit je zwei Knöpfen dekorirt werden.

Zur Promenade werden dreiknöpfige Saccos ebenfalls getragen, ferner solche mit langer offener Façon. Man lässt sie jedoch meist ungeknöpft, weil zur Promenade die zweireihige Reversweste bevorzugt wird und zur Geltung kommen soll. Korpulente Herren geben der halblangen Façon den Vorzug, lieben das Sacco auf einen Knopf zu schliessen und gleich vom Schluss aus eine formgerechte Abkantung, welche nach unten die Weste sehen lässt. Durch dieses Arrangement wird die wuchtige Fülle der Korpulenz in vortheilhafter Weise unterbrochen und ein schlankeres Aussehen der Figur bewirkt. Uebrigens sind auch einige jüngere Herren für diese Façon sehr eingenommen, besonders dann, wenn sie beim Promenadenanzuge gern einen Knopf schliessen, aber eine helle Weste noch zur Geltung kommen lassen wollen.

Zweireihige Saccos sind zwar von der Mode nicht ausgeschlossen, gehören aber zu den Seltenheiten. Ihre Façon lässt sich mit wenigen Worten beschreiben: Die Fronte ist stets gerade, meist auf drei, nur selten auf vier Knöpfe schliessend. Die Façon ist dem breiten Ueberschlage entsprechend kräftiger, mit aufwärtsstrebenden spitzen Klappen. Im Uebrigen entsprechen sie in Schnitt und Ausstattung der einreihigen Form.

Rockiackets gelten in zwei verschiedenen Längen als modern. Die sich mehr verkürzenden Rockjackets mit vollerem, weniger flott abgestochenem Schoss machen den Saccos starke Konkurrenz. Sie erfordern den ganzen Anzug von gleichem Stoff, und wählt man dazu mit Vorliebe gelbliche, modefarhige und grünliche Nuancen. Die Façon dieser Rockjackets ist kurz rollend, der Schluss auf drei oder vier Knöpfe, die Taille um3 - 4 cm verlängert. In der Regel werden Brusttasche mit Leiste und Hüftpatten augebracht.

Längere Rockjackets werden mit halblanger Rollfaçon zum Offentragen gemacht, ohne Aussen-Bruattasche, mit flott abgerundetem Schoss und mit einer Taillenverlängerung von 2 1/2 - 3 cm. Dabei kann der Anzug sowohl aus gleichem Stoff, wie auch verschiedentlich komponirt sein. Wo dergleichen Anzüge zur Promenade getragen werden, sind zweireihige Façonwesten sehr beliebt besonders in Stoffen, die sich vom Anzuge abheben. Daneben finden helle gestreifte und karrirte Beinkleider grossen Anklang. Im Laufe des vergangenen Sommers machte sich das Bestreben geltend, Rockjackets mit Bruchhintertheil einzuführen; diese Mode hat einen günstigen Eindruck gemacht und wird sich auch im neuen Jahre wiederholen.

Gesellschaftskleider sind in der Hauptstsache Frack und Gehrock. Das Smoking kommt in feineren Gesellschaftskreisen nicht mehr in Betracht.

Der Frack ist das vornehmste Kleidungsstück der Gesellschaftstoilette. Wie alle modernen Kleiderformen, so präsentirt sich auch die neueste Frackmode in einem praktischen Mittelverhältniss. Die Länge und Breite der Façon und des Schosses, sowie die Weite der Aermel, alles dieses entspricht einem normalen Mittelmass. Die untere Schossabrundung hat neben dem einfachen Querabschnitt wenig Geltung. Doppelte Dekorationen bei den Reversfracks, wie Sammetkragen und Seidenspiegel zugleich, machen bei der heutigen Geschmacksrichtung den Eindruck des Ueberladenen; entweder nur das Eine oder das Andere. Handelt es sich jedoch um höhere Ansprüche und Verpflichtungen, sind Anklänge einer solchen Ausstattung vollstandig ausgeschlossen; hier gilt die einfache auf fünf Knopflöcher eingetheilte zweireihige Reversfaçon, bei welcher die Knopflöcher auf die Klappe und zwei in's Theil kommen. Wie schon bemerkt, schreibt die gegenwärtige Mode eine mittlere Breite der Façon vor, die zwischen der ovalen Kantenrundung und der geradlinigen Form ein hübsches Mittelmass einnimmt. Die Klappe ist spitz, der Kragen mit nur wenig Abstand von derselben. Die Vordertheile werden schmal gehalten, da der Frack offen getragen wird. Nur korpulente Herren machen von dieser Vorschrift gern eine Ausnahme, um den Frack nicht ausgewachsen erscheinen zu lassen und auch, weil durch das Zurücktreten der Frackvordertheile die Weste und Wäsche zu sehr hervorleuchtet, was bei der grossen Fläche derselben bei korpulenten Herren, weil zu massig, eben keine sehr günstige Wirkung erzeugt. Man wird also stets gut thun, solche Kunden nach ihren diesbezüglichen Wünschen genau zu befragen, um vor späteren Unannehmlichkeiten sicher zu sein. Jedenfalls ist es zweckmässig, den Frack mindestens so einzurichten, dass er mittels Doppelknopfes geschlossen werden kann. Für die Schosslänge ist die Länge des Hintertheils bis zum Hakensticheln, einschliesslich der Stehkragenhöhe, massgebend. Die Aermel in halbweiter Form erhalten einen markirten Aufschlag von 5 - 9 cm mit Schlitz und zwei Knöpfen und Knopflöchern. Nebenbei ist für jüngere Herren die Chalefaçon nicht ganz ausgeschlossen, welche dann mit Seide gedeckt wird.

Als Frackweste ist für Bälle und dergleichen Festlichkeiten die weissseidene zweireihige Chaleweste hochmodern, dabei kommen oft hübsche kleine geblümte oder auch andere Muster zur Geltung. Der Ausschnitt ist nach wie vor rundlich gehalten, nur findet die übertriebene Breite nicht mehr dieselbe Würdigung. Neben der seidenen lässt sich die weisse Piqueweste ihr altbewährtes Gesellschaftsrecht nicht streitig machen; insbesondere ist sie einigen älteren Herren eine liebe Gewohnheit geworden. Zu besonders ceremoniellen Repräsentationen hat die einreihige dreiknöpfige schwarze Chaleweste den Vorzug.

Das Frackbeinkleid hat sich in seinen Formenverhältnissen in letzter Zeit am wenigsten verändert, weil sich an dem jetzigen Schnitt nicht so leicht ein schneller Modewechsel vornehmen lässt. Die gerade Form, eine Folge der früheren weiten Beinkleider, war zu beliebt geworden, dass ein Versuch der Aenderung nach dieser Richtung nicht gemacht werden konnte. Naturgemäss erstreckte sich daher der ganze Modewechsel nur auf das Weitenausmass, das sich für mittlere Verhältnisse des Frackbeinkleides auf 46 cm Knieweite und 42 cm Fussweite berechnet. Indessen hat die Absicht, dem Beinkleide durch Schnitt und Dressur wieder etwas mehr Facon zu geben, seine volle Berechtigung. Sie ist in schwachen Anklängen, als leicht markirte Kniekehle
und etwas Schweifung auf dem Fuss, auch schon zum Theil zur Wirklichkeit geworden, woraus hervorgeht, dass die bis jetzt für die Gesellschaftskteidung noch massgebende gerade Form sich demnächst in dieser Richtung verändern wird. Der Gehrock, der bei kleineren Gelegenheiten dazu berufen ist, die Stelle des Frackes zu ersetzen, wird zu diesem Zwecke im Gegensatz zum letzteren meist geknöpft, aufzwei oder drei Knöpfe schliessend. Die zweireihige Reversfaçon ist die massgebende, sie wechselt in einfacher Bearbeitung mit den bis zu den Knopflöchern mit matter Seide gedeckten Klappen ab. Die Façon harmonirt mit ihrer Kantenliniatur mit derjenigen des Fracks, nur ist sie etwas kräftiger gehalten. Besondere Neuerungen an diesem Kleidungsstücke sind, dass die frühere Schossweite zu Gunsten des glatten Falles beträchtlich zurück gegangen ist und dass seine moderne Länge in gleicher Höhe mit dem Knie abschneidet. Die Weste zum Gesellschaftsgehrock ist die einreihige auf 4-5 Knöpfe schliessende Chaleweste. Das Beinkleid, in der Form gleichgehalten wie das zum Frack gehörige, wird für gesellige Festlichkeiten gern in anderer Farbe gewählt; besonders sind es fein gestreifte graue oder bläulichgraue Kammgarnstoffe, die selten über eine solide Mittelfarbe hinausgehen. 46-48 cm Knieweite und 42 - 44 cm Fussweite ist das hierfür moderne Mittelmass.

Ueberkleider lasserr sich nur für die bevorstehende Frühjahrs- urrd Somruersaison mit einiger Sicherheit bestimmen, und kommen dabei Sommerüberzieher, Sportspaletots und Sommerhavelocks in Frage.

Für Sommerpaletots gilt die einreihige Form mit verdeckter Leiste, bei der die Klappen sowohl spitz wie mit Crochetfacon sein können. Kragen und Klappen werden mittelbreit gehalten werden. Wo Seidenfutter zur Verwendung kommt, wird dasselbe bei knöpfbaren Paletots bis an die Knopflöcher treten, bei ganz umschlagender Rollfaçon tritt das Seidenfutter bis zur vorderen Kante. Die Taschen werden mit Einschiebepatten gemacht, die Kanten einmal gesteppt. Seiten- und Achselnähte sollen ziemlich hoch gelegt werden. Das Hintertheil erhält eine Mittelnaht mit circa 18 cm langem Schlitz. Der halblose Fall muss trotzdem die Taille gut markiren. Für die Länge der Sommerpaletots besteht noch keine bestimmte Vorschrift, sie werden nicht zu reichlich ausfallen, bis zum Knie und wenig darüber hinaus.

Sportspaletots kontrastiren in auffälliger Weise. Die Länge des kurzen Sportspaletots überragt nur um 6 - 8 cm diejenigen der modernen Saccolänge. Obgleich dieses Kleidungsstück vorzugsweise für jüngere Herren berechnet ist, bei denen eine flotte Machart Gefallen findet, ist man doch an diesem Stück der früher gern gesehenen Steppreifen und Stoffstreifen überdrüssig geworden. Die Kanten werden doppelt abgesteppt, die Nähte einfach genäht und glatt ausgebügelt.

Der sogenannte Rennbahnrock hat eine Länge bis zur halben Wade, oft noch darüber hinaus. Die dazu verwendeten Stoffe sind meist weiche wollige Cheviots, marengo, dunkelgrau oder auch in rötlichen und grünlichen Melangen. Gewöhnlich ist die Façon mit ziemlich kräftigen spitzen Klappen. Auch hierbei sind die Taschen mit Einschiebepatten; für gewöhnlich mit einfachem Quereinsehnitt, doch können die Seitentaschen auch einen schrägen oder sichelförmigen Einschnitt haben. Bevorzugt wird die Machart des Hintertheils im Bruch mit hohen Seitenschlitzen, die dann aber nicht offen getragen, sondern mittels verdeckter Knopflöcher und Knöpfe geschlossen werden. Bei anderen Paletotarten sind derartige Seitenschlitze allerdings ausgeschlossen. Die Aermel werden halbweit und mit Rollaufschlägen gemacht, welche oben an der hinteren Naht abgerundet sind.

Ausser dieser Form wird der lange Sportspaletot auch hinten rockförrnig mit eingesetztem Seitentheil gemacht, dann schneidet man das Hintertheil ebenfalls im Bruch und lässt den oberen Hinterschoss bis an die rechte Schossfalte treten.

Der Sommerhavelock ohne Aermel wird in einer Länge bis zur halben Wade von dünnem rauhem Cheviot oder Lodenstoff ohne Futter mit aufgesteppten Taschen angefertigt; die Halbpelerine reicht bis zum Handgelenk. Die Fronte ist dieselbe wie beim Paletot, nur mit etwas reichlicher breitem Ueberschlag. Der Fall des Havelocks ist ganz lose, infolgedessen sind Schlitze weder in den Seitennähten, noch ein solcher im Hintertheil erforderlich.

Bei Beginn der wärmeren Jahreszeit ersetzt der zweireihige Promenadengehrock den Paletot.

Der Schnitt ist im Allgemeinen derjenige des auf drei Knöpfe schliessenden Gesellschaftsgehrockes, nur wird die Façon kräftiger und weniger schlank gehalten, und die Klappen werden bis zu den Knopflöchern mit schwerer matter Seide gedeckt. Gewöhnlich wird der Promenadengehrock offen getragen, die Vordertheile sind deshalb knapp zu halten, damit sie im offen getragenen Zustande nicht überflüssige Stofffülle aufweisen. Die Länge reicht bis über das Knie hinaus, dabei ist der Schoss ziemlich glatt. Man verwendet dazu Kammgarn-Cheviots und Meltons in marengo, dunkelgrau und braun.

Westen für Gesellschaftskleidung sind schon erwähnt worden, auch wurde darauf hingewiesen, dass zu Promenadenanzügen zweireihige Façonwesten sehr beliebt sind, desgleichen zweireihige Chalewesten. Zu Geschäftsanzügen eignet sich am besten die fünf- bis sechsknöpfige einreihige Weste mit Chalekragen oder Stehbrust.

Beinkleider für Gesellschaftskleidung sind ebenfalls eingehend beschrieben, im Uebrigen sind dieselben nicht anders geformt. Das mittlere Weitenausmass ist im Allgemeinen 48 - 49 Knieweite und 43 - 44 Fussweite.

Ueber Sportskleidung berichten wir noch an anderer Stelle.

 

Quelle: Fa. F.A. Seiler. Mass-Buch für das Jahr 1898. Dem deutschen Schneiderwgewerbe zum Jahreswechsel gewidmet. 1897
Die Rechtschreibung folgt dem Original.