Unterwäsche 1870-1900

 

Zwei Unterwäsche-Teile braucht Frau in jedem Fall: Ein Hemd (alias Chemise) und eine Unaussprechliche (alias Unterhose). Dazu kommen eine variable Anzahl Unterröcke und eine Untertaille, die aber für unsereins nicht zwingend nötig sind.

Unterröcke würden den Rahmen dieser Seite sprengen, da Form und Zuschnitt von der jeweiligen Rockmode abhängen, die während des hier betrachteten Zeitraums oft wechselte. Am besten benutzt man einen einfachen Oberrock-Schnitt der jeweiligen Zeit als Grundlage. Die Untertaille ist ein gut taillenlanges, enganliegendes, vorn geknöpftes Hemdchen, dessen Hauptaufgabe es ist, einen Puffer zwischen dem Korsett und der Oberkleidung darzustellen, auf daß die nagelartigen Verschlußteile des ersten nicht die Innenseiten der zweiten aufreiben. Da unsereins solche Kleidung nicht täglich trägt, ist solcher Schutz nicht nötig.

Auch wenn hin und wieder von farbiger Unterwäsche berichtet wird, ist Weiß bzw. Natur schon allein aus praktischen Gründen (Kochwäsche) die einzig wahre Farbe für Unterwäsche. Für heiße Tage eignet sich am besten Leinen, für kühle Baumwolle und für kalte Baumwollflannell oder Barchent, d.i. einseitig angerauhter, dichter Baumwollköper. Der Feinheitsgrad des Stoffes sowie die Dekoration ist davon abhängig, ob man ein Dienstmädchen oder eine Bäuerin*, eine feine Dame oder eine kleinbürgerliche Hausfrau darstellen will. Es ist zu bedenken, daß v.a. Leinenstoffe damals ungleich feiner zu haben waren als heute.

Das Hemd

Vom frühen 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert gab es Heden, die fast genauso aussehen wie im 18. Jahrhundert, nur daß die Ärmel sehr kurz waren1. In einschlägigen Büchern der Zeit findet man daher auch Hemdschnitte, die denen der Chemise des 18. Jh. verdächtig ähnlich sehen. Für Hemden, die unter schlichter ländlicher Kleidung oder Tracht getragen werden, solltest Du deshalb auch für die Zeit von 1870-1900 den Schnitt und die Anleitung des 18. Jh. verwenden.

Daneben entstanden ab Mitte des 19. Jh. weitere, zum Teil ärmellose Hemdenformen. Die "Praktische Zuschneidemethode" von ca. 1900-1910 zeigt einige Varianten, von denen einige hier zitiert werden. Zwar ist dieses Buch um einiges jünger ist als der hier betrachtete Zeitraum, aber wie das oben erwähnte "ländliche" Hemd zeigt, waren Lehrbücher (und wahrscheinlich auch viele ihrer Nutzerinnen) in Sachen Unterwäsche teilweise konservativ. Die unten vorgestellten zwei Hemdenschnitte habe ich so ähnlich auch in Büchern des späten 19. Jh. gefunden², und dazu noch zwei Handvoll Schnitte mit eckigen, runden, U-Boot- und anderen Ausschnitten.

Allen Hemden, ja überhaupt der ganzen Unterwäsche ist in der Verarbeitung gemeinsam, daß die Nähte mit Schnittkanten – egal ob maschinen- oder handgenäht – als Kappnähte eingerichtet werden, Nähte entlang der Webkanten hingegen überwendlich. Die Säume werden mehr oder minder schmal zweifach umgeschlagen und von Hand mit Saumstich befestigt oder, falls sie nicht zu stark gebogen sind, auch mit der Maschine gesteppt. Wie die Gesamtansichten zeigen, können Arm- und Halsausschnitte mit Klöppel- oder Wäschespitze und pastellfarbigen, seidenen Durchzugsbändern verziert werden. Zu dieser Zeit sind Torchonspitze, maschinell gefertigte Klöppelspitze und Lochstickerei die häufigsten Varianten.

Noch ein Wort zu den Größen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein folgte Weißwäsche meist Standardschnitten, die für alle Körpergrößen gleich waren. Der Hauptgrund dafür dürfte gewesen sein, daß die dafür verwendeten Stoffe traditionell 80 ± 10 cm breit gewebt wurden. Den Stoff für eine kleinere Figur schmaler zu schneiden, hätte einerseits mehr Arbeit bedeutet (schneiden und versäubern) und andererseits Verschnitt, also Abfall. Den hat man damals noch zu vermeiden versucht. Also hat man die volle Stoffbreite ausgenutzt. Mit der industriellen Maschinenweberei und der Einführung des metrischen Maßsystems setzte sich eine Standard-Stoffbreite von 80 cm durch. Die im Folgenden vorgestellten Schnitteile sind meistens für genau diese Stoffbreite optimiert.
Für jemanden, der es gewohnt ist, alles in einer eher kleinen Konfektionsgröße zu kaufen, ist es bestimmt ungewohnt, ein gefühltes Zelt zu nähen. Gibt das nicht fürchterliche Druckstellen unter dem Korsett? Nein – wenn man einen geeignet feinen Stoff wählt. Er sollte dicht gewebt sein, aber dünn.

 

Einfaches ärmelloses Hemd

Die am einfachsten zu fertigende und stoffsparendste Hemdenform ist das passenlose, ärmellose Hemd. Die Form des Ausschnitts kann fast beliebig variiert werden: rund wie links zu sehen, eckig, V-förmig. Alles andere bleibt sich gleich. Der Schnitt hier ist für die Variante mit rundem Ausschnitt, aber es ist ein leichtes, den Ausschnitt zu ändern. Auch die Größenanpassung ist einfach: Nach unten ist keine nötig, da Schnitte jener Zeit sowieso eher für kleine Gestalten gedacht waren. Nach oben ist viel Luft, da das Hemd direkt unter der Achsel 132 cm weit ist und von da an breiter wird.

Trotzdem reicht das bei einer Oberweite von 110 cm und mehr nicht, da das Hemd eher lose sitzen soll (die 132 cm Weite sind nun mal für eine damalige Normgestalt von bis zu 90 cm Oberweite veranschlagt). In so einem Fall kann man den Schnitt sehr leicht abändern, indem man in der vorderen Mitte und in der Seitennaht jeweils ein paar Zentimeter zugibt. Bedenke, daß jeder Zentimeter, den man dem (halben) Schittdiagramm hinzufügt, 4 cm mehr Weite bedeutet.

Das Schnittdiagramm rechts stellt gleichzeitig Vorder- und Rückenteil dar; der einzige Unterschied besteht darin, daß der Ausschnitt vorn tiefer ist, daher die zwei Ausschnitt-Linien. Der Ausschnitt wird vorn und hinten eingereiht, bevor die Dekoration montiert wird – siehe Übersichtsbild links. Der Keil unten, der über die 40-cm-Linie hinausragt (grün), wird aus dem Verschnitt gemacht, der oben anfällt (rot) – ganz ähnlich wie auch im 18. Jahrhundert

 


Hemd mit Passe

Hemden mit Passe sind etwas anspruchsvoller, geben aber eine schöne Büste unter einem ordentlich geschnürten Korsett. Bei manchen Varianten werden die Stummel-Ärmel gleich mit an die Passe angeschnitten. Ich habe hier eine eher einfache, aber sehr typische Variante ausgewählt, die ich fast exakt genau so in einem Buch von 1885 gefunden habe (Unterhemd 1)². Der Laughing-Moon-Schitt #100 entspricht der Variante mit angeschnittenen Ärmeln.

Wie beim ärmellosen Hemd oben wird der Keil, der über die 40-cm-Linie hinausragt (grün), aus dem Verschnitt oben (rot) gefertigt. Der vorn und hinten jeweils im Stoffbruch geschnittene Rumpfteil wird oben eingereiht. Die hintere Passe wird zweimal im Bruch geschnitten, die vordere Passe viermal einzeln mit Zugaben an allen Seiten. Die Passe wird zweilagig ausgeführt, d.h. man näht die Vorderteile an die hinteren, bügelt die Nähte platt - und macht das Ganze dann noch einmal. Dann legt man die beiden Lagen rechts auf rechts und näht sie entlang des Halsausschnitts und des vorderen Schlitzes zusammen. Die Zugaben zurückschneiden, die genähten Kanten ausbügeln und umdrehen. Die unteren Kanten, die ans Hauptteil angenäht werden, schlägt man nach innen um, schiebt den gereihten Rumpfteil zwischen die beiden Lagen und näht ihn fest – am saubersten geht das von Hand, oder man heftet sehr gründlich vor. Dann schließt man die Seitennähte, setzt die Ärmel an, versäubert die Nähte und den Saum.

Auch hier ist die Unter-Arm-Weite ca. 130 cm und sollte für breitere Figuren entsprechend angepaßt werden. Das ist bei diesem Schnitt etwas schwieriger, weil je nach Figur auch die Passe verbreitert werden muß: Bei schmalen Schultern reicht es evtl., den Hauptteil in der vorderen/hinteren Mitte breiter zu machen und sie stärker einzureihen. Bei breiteren Schultern sollte man die Passen-Schnitteile (1. und 2. oben links) zwischen 15 und 22 bzw. 14 und 21 senkecht durchschneiden und einen Streifen von z.B. 1 cm Breite dazwischenkleben. Zusätzlich kann man an der Seitennaht etwas hinzufügen, aber dann wird das Armloch größer und braucht demzufolge einen weiteren Ärmel – was bei stärkeren Figuren womöglich sowieso sinnvoll ist. Man muß es nur eben beim Ärmelschnitt berücksichtigen.

 

 

Hemd mit Kreuzpasse

Das Hemd links stammt aus einem Lehrbuch von 1885² und ist durch seinen überlappenden V-Ausschnitt ein bißchen ungewöhnlich. Deswegen habe ich es ausgewählt. Der Schitt hierzu ist unter den Schnitten fürs späte 19. Jh. zu finden. Die Herstellungsweise ist hoffentlich aus dem Schnitt ersichtlich - die dichten prarallelen Linien zeigen an, wo entweder Biesen genäht werden müssen oder gereiht werden muß - das ist Geschmackssache.

 

Die Unaussprechliche

Das offene Beinkleid

heißt so, weil es im Schritt offen ist, während gegen 1900 auch geschlossene Beinkleider aufkamen. Obwohl noch das Hemd darüber ist, wurde darüber obendrein noch ein Anstandsrock getragen, um zu verhindern, daß z.B. bei einem Sturz sich peinliche Einblicke ergeben. Da die Hosenbeine sehr weit geschnitten sind, bekommt man gar nicht so viel Zugluft ab wie man meint. Trotzdem hielt man es für angebracht, mehrere Unterröcke zu tragen, um sich keine Blasenentzündung zu holen. Im Winter ist das wahrscheinlich auch sinnvoll, obwohl die Erfahrung zeigt, daß sich selbst unter einem nicht bodenlangen Rock eine regelrechte Wärmeglocke bildet.

Das alles erscheint auf den ersten Blick zwar viel umständlicher, als einfach eine "normale", d.h. geschlossene, Unterhose zu tragen, aber wer einmal eine moderne Unterhose unter einem Korsett getragen hat weiß, daß man selbige, wenn man sie für einen Klogang einmal heruntergezogen hat, schwerlich wieder unter das Korsett hineinfummeln kann. Beim offenen Beinkleid kann man den Schritt beim Klogang einfach auseinanderziehen.

Das offene Beinkleid besteht im Grunde aus zwei einzelnen Hosenbeinen, die eingereiht an einen hinten offenen Bund gesetzt werden. Dabei läßt man die Beine vorn ein wenig überlappen, damit es dort nicht so leicht aufklafft. Man kann sie alternativ auch ein Stück weit zusammennähen. Im Bund wird ein Tunnel eingerichtet und ein Zugband hindurchgezogen, das gleichzeitig als Verschluß und Weitenregulierung dient. Im Schnitt (rechts, in vier verschiedenen Größen) ist der Bund weggelassen. Man macht ihn ca. 6 cm breit (plus Zugaben) und so lang wie die korsettierte Taillenweite.

Unten am Bein wurden oft schmale Biesen in verschiedener Zahl abgenäht. Dekoration aus Wäschespitze ist optional und eine reine Geschmacksfrage. Eingereiht wurden die Beine unten nicht.

Geschlossene Beinkleider

kamen erst in Mode, als es unter dem Rock nicht mehr gar so kompliziert zuging, also etwa im Verlauf der 1890er. Der Verschluß wurde seitlich zum Knöpfen eingerichtet. Der Schlitz wird in die äußere Naht zwischen den beiden Teilen eines jeden Beines eingearbeitet und natürlich versäubert.

Biesen im Bein wurden nicht gemacht; stattdessen wurde die untere Beinöffnung eingereiht und an ein Kniebündchen gesetzt, das weit genug sein muß, daß der Fuß hindurchpaßt und es bequem am Bein sitzt. Schlitz und Verschluß wie eine Kniebundhose hat das Kniebündchen nämlich nicht. Zwar sind Spitzenvolants auch hier nicht verpflichtend, aber als optisches Gegengewicht zum eingereihten Bein sehen sie einfach besser aus. Es ist auch möglich, das Kniebündchen wegzulassen (d.h. das Bein wird nicht eingereiht), aber dann muß man das Hosenbein entsprechend länger schneiden.

Allzu praktisch waren diese Beinkleider auch ohne Rockunterbauten nicht, so daß gegen 1900 das sogenannte Reformbeinkleid mit aufknöpfbarer "Heckklappe" erfunden wurde. Einen Schnitt hierzu gibt es auf der Seite der 1900er Schnitte.

 

 

Falls Du mit den Diagrammschnitten oben nicht klarkommst, empfehle ich den Kauf des Laughing-Moon-Schnittpakets, das zwei Korsettschnitte, einen Hemdenschnitt und einen Beinkleidschnitt enthält. Da bekommt man richtig was geboten fürs Geld. Siehe Bezugsquellen.

 

*) Auf dem Land war man konservativ. Bis ins frühe 20. Jh. blieb das Hemd so wie um 1800 und es wurde keine oder eine offene Unterhose getragen.
1) Buch der Wäsche, siehe Quellen
2) Klemm Damenschneiderei, siehe Quellen