langes, enges Tablier 1878 |
Das herausragendste Ereignis des späten 19. Jahrhunderts ist sicherlich die Industrielle Revolution. Man denkt an Dampfmaschinen, Fabriken, Marx und Proletariat, Armut, Arbeiterelend - also was hat das mit der Mode zu tun, von der hier die Rede ist, zumal der der oberen Klassen? (Mode war bis in die 1920er hinein tendenziell eine Privatvorstellung der Wohlhabenden.)
Wir reden hier von der Bourgeoisie, jener neuen Klasse, die weder adlig noch arm war und die in jener Zeit den Ton angab. Ihr Wohlstand kam großenteils von Fabriken, die sie führten und/oder besaßen oder von hochqualifizierten Berufen (Arzt, Anwalt, Kaufmann), die sie am neuen Reichtum teilnehmen ließen. Das unterschied sie vom Adel, dessen Reichtum - sofern noch vorhanden - ererbt war. So imitierte die Bourgeoisie einerseits den adligen Hang zur Angeberei mit Reichtum, zum anderen versuchte sie sich vom Adel abzusetzen, da sie doch ihren Reichtum im Schweiße ihres Angesichts verdient hatte. Nun gut, es war eher der Schweiß im Angesicht ihrer Angestellten, aber trotzdem hielt es sich die Bourgeoisie zugute, daß sie ihr Geld verdient hatte. In diesem Zusammenhang spielte Mode eine wichtige Rolle: Sie half, die Identität dieser neuen und somit noch traditionslosen Klasse zu definieren.
Protestantische Arbeitsethik hatte es schon lange gegeben - im 17. Jh. hatte sie die Händler und Manufakturbetreiber zu den wahren Herrschern der Niederlande gemacht -, aber nun wurde sie zum allgemeinen Kulturgut, unabhängig von der Konfession. Was beinhaltet sie? Vereinfacht gesagt: Wenn jemand im Diesseits Reichtum erwirbt, ist das ein Zeichen, daß Gottes Segen auf ihm ruht. Damit wurde finanzielles Wohlergehen quasi gleichgesetzt mit religiöser Tugend, Reichtum zur sicheren Anwartschaft auf das Himmelreich. Also: Sei fleißig und ansonsten bescheiden, und das Paradies ist dir sicher.
Das führte dazu, daß die Männerkleidung erstmals gedeckt, zurückhaltend und langweilig wurde: Wer im Geschäftsleben als sachlich und seriös gelten wollte, mußte sachlich und seriös gekleidet sein. Die Niederländer als Vorreiter der protestantischen Arbeitsethik hatten schon im 17. Jh. mit strenger, schwarzer Kleidung angefangen. Aber seinen Reichtum herzeigen wollte man doch, schon allein um es dem alten Adel zu zeigen. Wie, wenn nicht durch edle Stoffe und bunte, arbeitsintensive Stickereien, wie in den vorigen Jahrhunderten üblich? Ganz einfach: Die Damen mußten umso luxuriöser gekleidet sein!
Erst im 19. Jahrhundert, im Biedermeier, kam die Idee auf, daß die Frau ins Haus und an den Herd gehöre. Eine Ackerbaugesellschaft, die jede Hand braucht, wäre nie darauf gekommen, auf die Arbeitskraft der halben Bevölkerung zu verzichten. Nun aber wurden - in den oberen Klassen - Frauen zu Luxusobjekten: Man(n) leistete es sich, sie nicht arbeiten zu lassen. Eine Frau, die zweckdienliche Arbeit tat, beschämte ihren Mann, den man verdächtigte, sich nicht leisten zu können, daß die Frau nicht arbeitete. Nur unproduktive Arbeit - Stickerei, Klöppeln, Wohltätiges - war sozial anerkannt. Nicht von ungefähr nehmen in Modezeitschriften die rein dekorativen, aus heutiger Sicht als reine Zeitverschwendung erscheinenden Handarbeiten im Lauf des 19. Jh. immer mehr Raum ein.
kurzes, loses Tablier, 1888 |
Somit hatten Frauen genau zwei gesellschaftliche Funktionen: Kinderkriegen und Repräsentieren. Da Frauen nicht ernstgenommen wurden, mußte ihre Kleidung auch nicht seriös erscheinen. Im Gegenteil: Je verspielter und unbequemer, desto mehr betonte sie, daß die Dame keiner ernsthafteren Tätigkeit nachzugehen brauchte als morgens die Toilette auszusuchen, die Dienstboten zu beaufsichtigen und nachmittags zur Schneiderin zu gehen. In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch erstmals die Vorstellung, daß es für verschiedene Zwecke unterschiedliche Kleidung geben müsse: Morgenkleid, Besuchskleid, Nachmittagskleid, Gesellschaftskleid, Abendkleid, Ballkleid. Damit zeigte die Dame, daß sie sich a) so viele verschiedene Kleider leisten konnte und b) nichts zu tun hatte als sich ständig umzuziehen. Wie zeitraubend umziehen damals war, darf man nicht unterschätzen.
Diese Funktion des "demonstrativen Müßiggangs" und "stellvertretend demonstrativen Konsums" wurde 1899 von Thorstein Veblen in "Theorie der feinen Leute" recht einleuchtend beschrieben: Die riesigen Mengen edler Stoffe, Spizen und Posamenten, die für eine Toilette nötig waren, werden dem (stellvertretend für die Männer) demonstrativen Konsum zugezählt, während die offenbare Unbequemlichkeit der engen Korsetts und kiloschweren Kleider demonstrativen Müßiggang illustrieren: Produktive Arbeit ließ sich darin kaum verrichten.
scheinbar lose sitzende Taille, späte 1880er |
Das gilt für die umfrangreichen Krinolinenkleider ebenso wie für die Kleider mit engen Röcken um 1880, und selbst noch für die Humpelröcke um 1912.
Von den 1880ern an sieht man aber immer mehr weibliche Kleidungsstücke, die Männermode kopieren: Zweireihige Jacken und Mäntel mit Revers, Paletots in der Form von Cuts, Hemdblusen. Grant McCracken hat dafür eine plausible Theorie, auch wenn diese für weibliche Berufskleidung des späten 20. Jh. gedacht ist: Eine Adaption der Simmelschen Tröpfeltheorie des späten 19. Jh. Laut Simmel erfindet die oberste Schicht eine neue Mode, um sich von den unteren Schichten abzusetzen. Diese wird sofort von der nächstunteren Schicht imitiert, dann wiederum von der nächsten usw. - so tröpfelt eine Mode durch die Schichten nach unten.
Bei McCracken nun geht es nicht um Gesellschaftsschichten, sondern um Gruppen unterschiedlich hohen Ansehens und unterschiedlicher Machtfülle. So gesehen waren (und sind z.T. bis in die Moderne) die Männer weiter oben und wurden von den Frauen imitiert, die hofften, so einen Teil der Macht abzukriegen. Eines der Mittel, Macht auszudrücken und auch zu erhalten, ist Kleidung: seriös, sachlich, geschäftsmäßig, kantig.
So war die Frauenbewegung schon in ihren Anfängen in einem Widerspruch gefangen: Sie wollten anders und doch gleichwertig sein - aber eines ihrer Mittel war Angleichung. Nur in modischer Hinsicht, mag sein - aber genau darum ging es ja in diesem Kapitel, daß Mode nicht "nur" Mode ist, sondern äußerer Ausdruck sozialer und psychischer Vorgänge.