Zum Thema Korsett

 

Vorbemerkung: Bis um 1800 trug frau einen Schnürleib oder eine Schnürbrust, zuweilen auch ein steifes Mieder. Von Korsetts war erst ab dem Empire die Rede. Ich benutze die beiden Begriffe "Schnürleib" versus "Korsett", um die sehr verschiedenen Formen vor und nach 1800 zu unterscheiden, halte das aber nicht immer konsequent durch. Wenn durch den Kontext klar ist, wovon ich rede, bezeichne ich zuweilen auch eine Schnürbrust des 18. Jh. als Korsett.

Für eine Frau, die historische Kostüme tragen will, ist ein Schnürleib bzw. ein Korsett unerläßlich, da das beste Kostüm sonst nicht authentisch wirkt, ach was: Es wirkt nicht einmal annähernd historisch. Da kommt dann oft die Frage auf, ob das nicht fürchterlich unbequem, ungesund und schädlich sei. Man hört doch immer von Ohnmachten und so...

Für diejenigen, die es kurz und schmerzlos wollen: Nein, ganz bestimmt nicht. Begründung folgt.

Zuerst mal unbequem: Das ist natürlich relativ. Das Korsett erzwingt eine sehr gerade Haltung, wie man sie der Oma noch mühsam anerzogen hat. Mühsam war das nur, weil Oma schon kein Korsett mehr hatte, das ihr half, sich selbst dann gerade zu halten, wenn sie nicht daran dachte. Die gerade Haltung mit zurückgenommenen Schultern kann dem modernen Rundrücken anfangs schon wehtun, weil sie ungewohnt ist. Bücken kann man sich damit auch nicht, aber das wäre auch undamenhaft: Wenn man schon keinen Kavalier zu Hand hat, den man verpflichten kann, dann geht die Dame lieber in die Knie - das ist übrigens noch heute empfehlenswert, wenn man nicht als bäurisch rüberkommen will, indem man den Allerwertesten in die Landschaft reckt.

Im Vergleich mit der Bewegungsfreiheit, die man in moderner Kleidung hat, ist es also tatsächlich unbequem, aber man kann eben nicht historische Kleidung tragen und gleichzeitig Bequemlichkeit erwarten, nach dem Motto "Wasch mich, aber mach mich nicht naß." Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit hat durchaus auch Vorteile: Selbst den heutigen Mannerleut, die von "Benimm" völlig unbeleckt sind, leuchtet es ein, daß sie sich für eine korsettierte Dame bücken müssen. Und für die Büroarbeiterinnen unter uns kann das Korsett, unter der Arbeitskluft getragen, die überbeanspruchte Rückenmuskulatur entlasten.

Thema ungesund: Natürlich gab es auch im 18. und 19. Jh. Damen, die den Taillenkult übertrieben. Und Eltern, die ihre Töchter (aber auch die Söhne) schon von der Wiege an zu fest einschnürten. Fatschen nannte man die Praxis, Säuglinge von Hals bis Fuß zu umwickeln wie eine Mumie, und es gibt Berichte, denen zufolge Ammen die Kinder so fest einschnürten, daß sie starben (Junker/Stille, 1991). Man glaubte damals, daß das noch weiche Skelett eine Stütze brauche, um den Körper überhaupt aufrecht halten zu können.

Eine Altersstufe weiter - also etwa mit Beginn des Laufens auf zwei Beinen - wurden den Kindern beiderlei Geschlechts mit Schnur versteifte Mieder angezogen, um eine gerade Haltung zu erzwingen und bei den Mädchen schon mal den Grundstein für eine schlanke Taille zu legen. Entweder wurde die logische Verbindung zwischen "weiches Skelett" und "leicht zu verformen" nicht gemacht, oder man fand es völlig in Ordnung, gewisse Verformungen mit Absicht herbeizuführen.

Während die Jungs das Mieder ab einem gewissen Alter (5-9 Jahre) ablegen durften, bekamen die Mädchen irgendwann zwischen dem 10. und 14. Jahr ihren ersten richtigen Schnürleib mit Fischbein - eine Initiation wie heute der erste Tampon. Von diesem Tag an ging sie nie wieder ungeschnürt, außer in der Schwangerschaft, und vielleicht nicht einmal dann. In diesem Lebensalter ist aber der Knochenbau noch immer relativ weich, so daß es zu Verformungen kam, die den Oberkörper der damaligen Mode anpaßten: Die untersten ein oder zwei Rippenbögen wurden nach innen gedrückt und verhärteten allmählich in dieser Position. Diese Verformungen und ihre Folgeerscheinungen (gequetschte Organe) waren der Grund, warum schon im späten 18. Jh. Ärzte gegen den Schnürleib zu Felde zogen.

Das alles gilt übrigens nur für die oberen Gesellschaftsschichten: Schnüren war zeitraubend und Fischbein teuer, und Zeit war auch damals schon Geld. Die körperlich arbeitenden Schichten konnten sich weder die Schnürleiber als solche leisten, noch konnten sie sich so sehr einengen, daß sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten. Durch Volkstrachten, die zumeist dem Kleinbürgertum und dem Bauernstand eigen waren, sind stattdessen maßvoll gesteifte Mieder überliefert, die zum Teil als Oberbekleidung getragen wurden, während Schnürleiber eindeutig Unterbekleidung waren.

Nun aber zu der Frage, warum all dieserecht üblen Folgen des Schnürens uns heute nicht mehr zu jucken brauchen. Das ist eigentlich ganz einfach: Weil wir ohne Schnüren aufgewachsen sind und unser Skelett seine ihm zugedachte Form entwickeln durfte. Ein erwachsenes Skelett ist im Wortsinn knochenhart und beugt sich Verformungsversuchen von außen nicht mehr so leicht. Es ist wie mit einem Bonsai: Solang ein Zweig noch jung ist, ist er sehr biegsam, und wenn man ihn in einer bestimmten Form fixiert, verhärtet er in dieser Form und bleibt für immer so. Einen alten Ast (also einen erwachsenen Brustkorb) hingegen kann man nur ein wenig biegen, sofern man ihn nicht brechen will, aber nie permanent verformen: Laß ihn los, und er kehrt in seine alte Form zurück. Ein versehentliches zu enges Schnüren ist praktisch unmöglich: Die nötige Kraft bringt kein normaler Mensch auf, und keine normale Schur bzw. Naht hält sie aus.

Den Beweis dafür habe ich letztes Jahr erbracht, allerdings in einem Gründerzeit-Korsett: Es mußte besonders eng geschnürt werden, weil ich zugelegt hatte. Und nein, es tat trotzdem nicht weh. Im ersten Moment fühlt man sich sehr eineengt, aber das gibt sich binnen 20, 30 Minuten. Während des Balles hatte ich dann mehrere Hustenanfälle, die das Korsett jeweils mit einem bedrohlichen "Ratsch!" quittierte. Beim auskleiden zeigte sich dann, daß mein Brustkorb das Korsett beschädigt hatte, nicht umgekehrt.

Schnürleiber der Zeit vor 1800 haben ganz gerade Linien, sind also eher trichter- als sanduhrformig. Wer eine extrem schmale Taille wollte, müßte also eine gerade Linie von der Taille bis zur Brust erreichen, und das würde bedeuten, die unteren Rippen wegzudrücken. Die machen das aber nicht mit, oder nur in einem sehr geringen Maß, das auf zwei, drei Tage hinaus keine negative Wirkung hat. Bei einer extrem schlanken Bekannten ist es eher so, daß sich das Korsett unter dem Gegendruck der Rippen verformt. Das schlimmste, was einer erwachsenen Frau heutiger Zeit beim Korsetttragen passieren kann, ist Wundreiben, wenn die Schnürbrust schlecht sitzt bzw. das Fischbein zu schwach ist.

Korsetts des 19. Jh. haben insofern ein gewisses Gefahrenpotential, als sie sanduhrfürmig sind, sich also um die unteren Rippen einwärts biegen. Indem das Korsett durch seine Sanduhrform auf den untersten Rippenbogen mehr Druck ausübt als auf den Rest, ist auch die Chance größer, diesen einen zu verformen. Wer also auf längere Zeit am Stück geschnürt geht, kann sich tatsächlich etwas antun. Andererseits sieht man sogar an den Fotos von Extremschnürern, die selbst nachts Korsett tragen, daß der unterste Rippenbogen eben doch tapfer dagegenhält. Wegen ein paar Stunden oder Tagen im Jahr braucht man sich also keine Sorgen zu machen.

Und was ist mit den Geschichten von Rippenbrüchen und ähnlichen Horrorstorys?
Nun, ich weiß nicht, was Du für Geschichten gehört hast, aber manche davon sind erstunken, andere übertrieben, ein paar sind sensationelle und in der Folge aufgebauschte Einzelfälle, manche wahr... aber die meisten sind wahrscheinlich vage Erinnerungen an gehörtes und gelesenes. Zum Thema Rippenbruch weiß ich z.B. einen Zeitungsbericht aus dem späten 19. Jh., nach dem eine Frau von einer Kutsche angefahren wurde, stürzte, sich dabei eine Rippe brach und ihr eng geschnürtes Korsett die gebrochene Rippe in die Lunge drückte, was zu ihrem Tod führte. Das Korsett verursachte also nicht den Rippenbruch, wie so oft behauptet wird, und es ist noch nicht mal sicher, daß die gebrochene Rippe die Lunge nicht auch ohne Korsett beschädigt hätte.

Fazit: Solang es nicht wehtut, ist alles in Butter. Vertraue Deinem Körper: Wenn er schreit, höre auf ihn. Wenn er nicht schreit, glaube ihm, daß er wirklich kein Problem hat.

Noch eine Bemerkung für diejenigen, die Kinder zum Re-enactment mitnehmen: Ein schnurgesteiftes Mieder ist für die paar Tage im Jahr kein Problem, wenn es gerade so fest sitzt, daß es nicht herumrutscht und die Haut aufreibt, und nicht so fest, daß das Kind sich über den Druck beklagt. Kinder haben gewöhnlich mehr Vertrauen in ihren Körper und wissen ziemlich gut, was sie vertragen. Stelle aber sicher, daß das Kind sich auch wirklich beklagt, wenn der Druck zu groß ist, indem Du ihm klarmachst, daß das völlig OK ist. Manche Kinder meinen ja, den Eltern gefallen zu müssen, indem sie sich eben nicht beklagen. Teenager können schon leicht gesteifte Schnürbrüste tragen und ab ca. 16-17 Jahren auch richtig steife. Die paar Tage im Jahr, die das Kind bzw. die Jugendliche die Schnürbrust trägt, werden sicherlich weniger Schaden anrichten als die wechselnden Moden, Säuglinge mal vorzugsweise auf den Bauch, mal ständig auf den Rücken zu legen, spitze Schuhe oder hohe Absätze.